Miteinander in Zeiten der Pandemie (2020)

Do., 02.04.2020 - 10:28 von
Prof. Dr. phil. Jan V. Wirth
, zuletzt bearbeitet am 16.04.2020 - 10:55

Covid-19 bringt das öffentliche Leben der Gesellschaft zum Erliegen. Das Virus dringt ein in jeden sozialen Winkel der Gesellschaft vom Bundeskanzleramt in der Millionenstadt Berlin bis in die stationäre Kinder-und Jugendhilfe auf dem Land. Covid-19 ist nichts, was wir uns gewünscht haben und dennoch hat sogar eine Pandemie positive Nebenwirkungen. 

Beratung, wie ich sie vertrete und sehe, ist auf die Kunstfertigkeit der Beraterinnen und Berater angewiesen, Ereignisse und Veränderungen aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu können. Insofern ist leider die Pandemie eine besondere Herausforderung und wahrlich die Probe aufs Exempel. 

Insbesondere könnte dies für die Demokratie gelten, insofern ob eine solche komplizierte politische Staatsform überhaupt geeignet sei,  radikale Maßnahmen umsetzen zu können. Armin Nassehi hat gestern in der Zeitschrift Spiegel von einer "Kriegswirtschaft ohne Krieg" gesprochen. Eine Kriegswirtschaft zeichnet sich bekanntlich dadurch aus, dass sie in einer radikalen und autoritären Weise Mittel und Ressourcen mobilisiert, um Gegner oder Feinde des Landes zu bekämpfen und schließlich eine solche Auseinandersetzung zu gewinnen. Gemeint ist damit von Nassehi allerdings nur die überraschende Fähigkeit des politischen Durchregierens, die zur Zeit genauso gebraucht wie auch diskutiert wird. Als eine der größten Errungenschaften seit der Aufklärung wurde gerade die Unmöglichkeit betrachtet, dass einige wenige politische Akteure ihre Macht dazu nutzen, eine ihrem Selbstverständnis nach demokratische Gesellschaft in einen Ausnahmezustand zu versetzen. 

Aus einer politischen Perspektive kann dies durchaus als eine gute und beruhigende Tat betrachtet werden, dass nämlich sich die demokratische Gesellschaft nicht selbst lähmt, wenn es gerade darauf ankommt, wie "aus einem Guss zu handeln" und kollektiv verbindliche Entscheidungen durchzusetzen. Der politische Umgang mit Covid-19 zeigt demnach eine erstaunliche Flexibilität und Offenheit, wenn auch gewiss manche dadurch erst aufgeworfene Probleme später deutlicher werden.

Aus wissenschaftlicher Perspektive lässt sich wie in einem Brennglas beobachten, wie Erkenntnisse und Wahrheiten sich zu vermeintlich sicheren Wissen formieren und dennoch fortlaufend neues Unwissen erzeugen. Die Halbwertzeit dieser Thesen ist erstaunlich kurz. Das war wahrscheinlich im Vollzug von Wissenschaft nie ganz anders, ja, genauso funktioniert sie, aber jetzt lässt es sich wie im Zeitraffer verfolgen. Wissenschaftler und Teams konkurrieren um die besten und schnellsten Forschungsergebnisse. Wann und wem wird wohl die Entwicklung des ersten Impfstoffs gelingen? Gewinnen die am besten ausgestatteten Teams oder wird - wie so oft die - Entdeckung eher einem Zufall zu verdanken sein? Ohne die Wissenschaft zwar kein systematischer Erkenntnisfortschritt und dennoch - gerade an der Flüchtigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse zeigt sich, dass die Idee des Gründervaters der Soziologie Auguste Comté, dass Wissenschaftler die Geschicke der Gesellschaft lenken, eine Utopie geblieben ist und nur eine solche sein darf.

Die Flugzeuge sind am Boden, die Fließbänder stehen still, die Menschen hocken missmutig gemeinsam zu Hause. Sicher? Gibt es einen besseren Zeitpunkt zum Frühjahrsputz oder um in der Wohnung lange liegen gebliebene Dinge zu erledigen? Mit den Kindern zu frühstücken und den Schul-Tag zu planen? Die Projekte und die Arbeit zu reflektieren im Webmeeting? Die Familienchronik pflegen und aktualisieren? Telefonate führen, die wir immer führen wollten, dies aber aus "Termingründen" (!) nicht taten. Warum nicht einmal längere Spaziergänge als sonst mit Angehörigen unternehmen? Wieso nicht neue Gewohnheiten begründen? Wann denn, wenn nicht jetzt? Ist gar die Pandemie als einmalige Chance zu sehen, die die Evolution uns in die Hände gespielt hat?

Chance? Nicht für alle: besonders betroffen sind die, die schon vorher schwach oder auf nur ungewisse und vorläufige Weise am gesellschaftlichen Leben teilgenommen haben. Wo keine Ersparnisse, da kann auch auf nichts zurückgegriffen werden. Es gilt zu hoffen, und es gibt Anzeichen dafür, dass nicht nur die Unternehmen vor dem Konkurs gerettet werden, sondern auch die Arbeitnehmer, Freiberufler und sonst wie Beschäftigte ihren Einkommensausfall im Lebensunterhalt mit dem Nötigen zum größeren Teil ersetzt oder kompensiert bekommen.

Dass die jetzigen gesellschaftlichen Zustände immense Beratungsbedarfe hervorrufen, ist klar. Beratungsbedarfe setzen sich bekanntlich aus mindestens zwei Komponenten zusammen: einem Zuwenig an Informationen (Entstehung, Verbreitung, Behandlung oder gar Heilung von Covid-19) - einem Zuviel an Entscheidungsmöglichkeiten (Priorisierung von Angelegenheiten, Auflösung von Widersprüchen, Konflikten im Unternehmen oder zu Hause in Familiensystem oder in der Nachbarschaft). 

Für Beraterinnen und Berater geht es darum, aktuell informiert zu sein, Ressourcen und Möglichkeiten im sozialen (digitalen) Raum zu identifizieren helfen und Widersprüche und Konflikte zwischen dem Beteiligten oder Betroffenen konstruktiv zu begleiten  oder zu schlichten. Bestenfalls enden solche Interaktionen so, dass die individuellen Nutzerinnen und Nutzer von Beratung - gerade in der Krise, die sonst keine wäre - die eigene Fähigkeit zur Selbsthilfe und das Vertrauen in die Selbstwirksamkeit wiedergewinnen. bzw. vermehren können. 

Dafür braucht es - genauso gesellschaftlich wie beraterisch - weiterhin die Aufrechterhaltung der Vielfalt der Sprachspiele, der Differenz der Perspektiven und Deutungsmöglichkeiten. Denn Vernunft, die sich für eindeutig hält und eindeutige Lösungen hervorbringen möchte, kann keine Vernunft sein.

Die Covid-19-Pandemie ist zwar in der Tat eine ungewöhnlich existenzielle Krise. Aber sie wird vorbeigehen. Dann wird auch Beratung wieder "normale Krisen" (sic!) begleiten und lösen helfen müssen. Dabei kommt es wie so oft auf Dialog und Entschleunigung an. Nicht Covid-19 ist das Problem, sondern unser manchmal naiver Umgang mit ihm und der Glaube an schnelle Lösungen sind es.

Zitiervorschlag: Wirth, Jan V (2020). Miteinander in Zeiten der Pandemie. Auf: https://www.science.de/artikel/miteinander-zeiten-der-pandemie-2020. Zugriff am 13.04.2020.

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