DIPLOMA-Dozent Prof. Dr. Carsten Rensinghoff hat zwei wesentliche Petitionen an den Deutschen Bundestag gerichtet. Im folgenden Text fasst er das Bestreben zusammen:
Verfasst von Carsten Rensinghoff
„Direkt nach der Bundestagswahl habe ich mich mit zwei Petitionen an den Petitionsausschuss im Deutschen Bundestag gewandt. Die erste Petition betrifft eine Person, die ich bereits seit meiner Tätigkeit in der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) in Sangerhausen – also seit 2023 – betreue. Hierbei geht es um die Beschaffung eines Hilfsmittels für den 12-jährigen Sohn Alexander. Die zweite Petition betrifft mich bei der Durchführung meiner derzeitigen beruflichen Tätigkeit als Professor für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule.
Hilfsmittelversorgung
Seit 2023 befasse ich mich mit dem Anliegen einer Frau, deren 12-jähriger Sohn Alexander (Name geändert) mit dem Smith-Magenis-Syndrom (SMS) lebt. Das SMS ist eine seltene genetische Behinderung. Von der Kinderärztin wurde Alexander ein Therapieliegedreirad verordnet. Alexanders Mutter hat diese Verordnung bei der Krankenkasse eingereicht, um die notwendige Zusage zur Kostenerstattung zu erhalten. Die Krankenkasse hat die Erstattung dieses Hilfsmittels immer wieder verweigert. Ein herausstechendes Argument war hier, dass Alexander aufgrund seiner geistigen Behinderung niemals im öffentlichen Straßenverkehr selbständig Fahrrad fahren könne. Die Krankenkasse beruft sich hier auf die Aussage des Medizinischen Dienstes, der vom Versicherer gemäß § 33 Absatz 5 Buchstabe b SGB V für die Genehmigung des Hilfsmittels hinzugezogen wird, sofern der Versicherer von sich aus die Genehmigung nicht aussprechen oder versagen kann. Der Medizinische Dienst hat dann nach Aktenlage über die Erforderlichkeit des Hilfsmittels zu befinden. Diese Regelung fand ich sehr befremdlich, weshalb ich mich auf einer Veranstaltung mit verschiedenen Bundestagskandidatinnen und -kandidaten an den seinerzeit amtierenden gesundheitspolitischen Sprecher der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Janosch Dahmen gewandt und hier eine gesetzliche Änderung erbeten habe. Diese Änderung sollte den Verzicht auf die Stellungnahme durch den Medizinischen Dienst bedeuten. Im Gegensatz zu – im konkreten Fall – Kinderärzten kennt der Medizinische Dienst Alexander gar nicht und kann nach Sichtung der Akten die Hilfsmittelnutzung und deren Notwendigkeit gar nicht beurteilen. Die Kinderärztin sieht Alexander regelmäßig und ist aus diesem Grund sehr wohl in der Lage hier eine korrekte Beurteilung vorzunehmen.
Dr. Dahmen, der sich freundlicherweise der Sache angenommen hat, hat hier eine Änderung erwirkt, die so jedoch nicht den Ansprüchen genügt. § 33 Absatz 5 SGB V wurde, auf Dahmens Initiative hin, Buchstabe c angefügt. Hiernach wird die Erforderlichkeit eines Hilfsmittels „vermutet, wenn sich der Versicherte in einem sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ – CR) [...] oder in einem medizinischen Behandlungszentrum für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen (MZEB – CR) [...] in Behandlung befindet und die beantragte Hilfsmittelversorgung von dem dort tätigen behandelnden Arzt im Rahmen der Behandlung innerhalb der letzten drei Wochen vor der Antragstellung empfohlen worden ist”. Und gegen die Verordnung durch Ärztinnen und/oder Ärzte des SPZ bzw. MZEB richtet sich meine Petition. Eine Beschränkung auf diese letztgenannten speziellen Behandlungszentren bedeutet für die Menschen, die ein Hilfsmittel benötigen, eine unzumutbare Härte. Ein Behandlungstermin in einem SPZ oder einem MZEB erfolgt nach Kontaktaufnahme oft erst nach 12 bis 18 Monaten. In dieser Zeit verschlimmert sich bei den Betroffenen die Behinderung oder endet schlimmstenfalls tödlich. Meine Petition soll, in Bezug auf § 33 Absatz 5 Buchstabe c SGB V, die Streichung der speziellen Behandlungszentren SPZ bzw. MZEB nach sich ziehen. Stattdessen sollen niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, die ihre Patientinnen und Patienten am besten kennen, das erforderliche Hilfsmittel verordnen können. Die speziellen Behandlungszentren, die in § 33 Absatz 5 Buchstabe c SGB V aufgeführt sind, sind vor allem im ländlichen Gebiet für die Betroffenen Personen nur schwer oder gar nicht erreichbar.
Teilhabe am Arbeitsleben
Die zweite Petition, die ich dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags vorgelegt habe, betrifft § 185 Absatz 2 Satz 3 SGB IX.
Gemäß § 185 Absatz 2 Satz 2 SGB IX sollen die Rehabilitationsträger durch die begleitende Hilfe im Arbeitsleben erreichen, „dass die schwerbehinderten Menschen in ihrer sozialen Stellung nicht absinken”. So sollen über diese Leistungen die Menschen mit Behinderung dazu befähigen, „sich am Arbeitsplatz und im Wettbewerb mit nichtbehinderten Menschen zu behaupten”. Hierfür fordert § 185 Absatz 2 Satz 3 SGB IX einen Beschäftigungsumfang von mindestens 15 Stunden pro Woche.
Gegen den Beschäftigungsumfang von wenigstens 15 Stunden pro Woche richtet sich meine zweite Petition. Diese Vorgabe entspricht nicht den wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Heilpädagogik. Sie produziert vielmehr marktwirtschaftliche Nullfaktoren – und das sind Menschen, die behinderungsbedingt nicht dazu in der Lage sind dem geforderten Beschäftigungsumfang zu entsprechen.
Hier ist auf jeden Fall die individuelle Situation eines jeden einzelnen Menschen mit Behinderung zu betrachten. So schreiben Bergeest/Boenisch/Daut (vgl. 2011,303), dass beispielsweise die Gruppe der Menschen mit einer Körperbehinderung so heterogen ist, dass es individueller Lösungen bedarf. „Die Körperbehindertenpädagogik setzt sich auf Grund der großen Zahl verschiedener Körperbehinderungen mit einer Fülle spezifischer Themen auseinander. [...] Als beeinflussende, jeweils mildernd oder erschwerend sich auswirkende Faktoren sind [...] die Art und Schwere der körperlichen Beeinträchtigung zu sehen, damit verbundene Begleiterscheinungen sowie Mehrfachbeeinträchtigungen, die jeweils individuellen biografischen und personalen Voraussetzungen sowie die gesellschaftlichen Bedingungen. Im Mittelpunkt der fachdisziplinären Auseinandersetzung steht der jeweilige, als kompetent begriffene Mensch, dessen Selbstverwirklichung und Partizipation“ (Daut/Lelgemann/Walter-Klose 2016, 214). Aus heilpädagogischer Perspektive ist § 185 Absatz 2 Satz 3 SGB IX kontraproduktiv und widerspricht bei spezifischen Schwerbehinderungen und Arbeitsplätzen der Teilhabe und Inklusion von Menschen mit einer Schwerbehinderung am Arbeitsleben. Letztgenanntes trifft für die Hochschullehre zu, die auch bei einem Lehrdeputat von weniger als 15 Stunden pro Woche einem derartigen Beschäftigungsumfang gleichzustellen ist, da hierfür immer eine Vor- und Nachbereitungszeit erforderlich ist. Die Vor- und Nachbereitungszeit ist arbeitsvertraglich oft nicht geregelt, beträgt aber auch einen Umfang von 15 Stunden pro Woche.
Fazit
Für beide Petition, die sich gegen die Vorgaben des Gesetzgebers richten, wird der nicht vorhandene Sachverstand erkennbar. In der Regel verfügen die gewählten Volksvertreter nicht über eine Behinderung und wissen somit nicht,
a) welche negativen Auswirkungen die Konsultation spezieller Behandlungszentren für Menschen mit Behinderung (z.B. in terminlicher oder örtlicher Hinsicht) und/oder
b) welche Bedeutung auch eine Beschäftigungszeit unter 15 Stunden pro Woche für den Menschen mit Behinderung
haben kann.
Am 01.05.2025 wird in dem WDR 5-Beitrag Dok 5 – Das Feature zum Thema Förderbedarf – Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung u.a. angeführt, dass Arbeitsagenturen für die Beratung von Menschen mit Behinderung keine Menschen mit Behinderung beschäftigen (vgl. Dehnenkamp 2025). Ein Peer Counseling muss für Beraterinnen und Berater von Menschen mit Behinderung verpflichtend sein, sofern die Beratung nicht von einem Menschen mit Behinderung erfolgt (vgl. Rensinghoff)."
Die Thematik dieses Artikels hat Prof. Dr. Rensinghoff auch in seiner Kolumne im Fachmagazin not, Ausgabe 4/2025 behandelt.
Literatur:
Bergeest, Harry/Boenisch, Jens/Daut, Volker (2011): Körperbehindertenpädagogik. 4. Auflage. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.
Daut, Volker/Lelgemann, Reinhard/Walter-Klose, Christian (2016): Bildung bei körperlichen und motorischen Beeinträchtigungen. In: Dederich, Markus/Beck, Iris/Bleidick,Ulrich/Antor, Georg (Hg.): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis. 3. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer, 212-217.
Dehnenkamp, Nele (2025): Dok 5 – Das Feature: Förderbedarf - Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung. URL: https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/dok5/-foerderbedarf-arbeitsmoeglichkeiten-menschen-mit-behinderung-100.html [Download: 06.05.2025].
Rensinghoff, Carsten (2025): Peer Counseling als Chance für neues Lernen. In: Hanstein, Thomas/Lanig, Andreas (Hg.): Bildungsmanagement in Dezentralität und Wandel. Heidelberg: Springer Nature, i.V.